Mein Freiwilligenjahr in Russlands sozialster Stadt

"Was ist eigentlich normal?". Mit dieser Frage setzte sich Christina Spitzmüller bei ihrem FSJ auseinander. Im Heilpädagogischen Zentrum von Pskow betreute sie Menschen mit geistiger Behinderung. Eine Arbeit, die in Russland noch einzigartig ist. Das Motto der Pädagogen: "Learning by doing".

"Nächster Halt: Integrationswerkstatt." Hierhin fährt die Buslinie 8. In Pskow kennt man die "8". Mit ihr fahren die "nicht ganz Normalen", die "Behinderten", zur Arbeit. Das Heilpädagogischen Zentrum (HPZ), wo ich mein Freiwilliges Soziales Jahr ableiste, liegt gleich hinter neben der Werkstatt. Diese "Förderschule für Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen", wie sie in Deutschland zum Standard gehört, ist hier in Russland einzigartig.

Es gibt zwar Sonderschulen für taube, blinde oder geistig unterentwickelte Kinder, aber keine für schwer mehrfach geistig behinderte Kinder. Sie landen meist in sogenannten "Internaten", das sind oft gefängnisartige Kinderheime mit chronischem Mangel an Pflegepersonal, einer Ration von zwei Windeln pro Tag und kaum individueller Förderung.

Deutsche Gemeinden spenden für Pskow

Das HPZ in Pskow nimmt somit eine Vorreiterrolle in Russland ein. Anfang der neunziger Jahre unternahm eine Gruppe evangelischer Christen aus dem Rheinland eine "Versöhnungsreise" nach Pskow, eine der am meisten vom Zweiten Weltkrieg zerstörten russischen Städte. Bei der einen Reise blieb es aber nicht, denn schnell war klar, in welchem Bereich die Stadt dringend Hilfe gebrauchen konnte: Behindertenarbeit war praktisch nicht vorhanden und eine Elterngruppe mit behinderten Kindern bat um Unterstützung.

Die Idee für das Heilpädagogische Zentrum war geboren. Eine "Initiative Pskow" wurde gegründet, Spendengelder gesammelt – es konnte losgehen mit dem Aufbau der Förderschule. Viele Weiterbildungen in Deutschland, viele Geld- und Sachspenden deutscher Gemeindemitglieder und das Herzblut vieler einzelner Helfer machten das HPZ schließlich zu dem, was es heute ist.

Inzwischen werden hier täglich rund 50 Kinder zwischen sieben und 18 Jahren betreut und unterrichtet. Zusätzlich gibt es eine Frühförderungsstelle, einen Kindergarten mit fünf Plätzen, das "Projekt Wohnen", wo junge Menschen mit Behinderungen in Trainingswohnungen lernen, selbstständig zu leben, und die Integrationswerkstatt, in der die behinderten Jugendlichen nach Abschluss der Schule eine Arbeits- oder Betreuungsstelle finden.

"Tempo, kleine Schnecke" und deutsche Bilderbücher

Nach 18 Jahren Trägerschaft durch die Initiative Pskow ist das Zentrum nun vor zwei Jahren in die Hand der Stadt und Region Pskow übergegangen. Seither ist es offiziell als Schule für Kinder mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen anerkannt und die Mitarbeiter werden vom russischen Staat bezahlt.

Dass die russischen Kinder "Tempo, kleine Schnecke" spielen und deutsche Bilderbücher anschauen, ist trotzdem kein ungewöhnliches Bild: Die Unterstützung der deutschen Partner ist immer noch wichtig für die Weiterentwicklung des HPZ. Deswegen werden Besucher aus Deutschland immer sehr herzlich empfangen. Vor allem den Mitarbeitern, die von Anfang an dabei sind, ist die Dankbarkeit anzumerken.

Mit Symbolen werden Kindern alltägliche Begriffe nähergebracht

Ljuda, eine Kollegin, lädt immer zu sich nach Hause ein, wenn eine Delegation aus dem Rheinland zu Gast in Pskow ist. Dann tischt sie, wie sich das für eine gute russische Hausfrau gehört, ordentlich auf: zahlreiche Salate mit viel viel Mayonnaise, Fleisch, Kartoffeln, zum Nachtisch Tee, Schokolade, Selbstgebackenes. Für Teller und Besteck ist kaum mehr Platz.

Und natürlich gibt es auch guten russischen Wodka, damit man auf die deutsch-russische Freundschaft, die gute Zusammenarbeit und alles mögliche weitere anstoßen kann. Dass Ljudas Familie sich dann den Rest des Monats buchstäblich von Brot und Wasser ernähren muss, weil der Monatslohn für das Festmahl draufging, nimmt sie gerne in Kauf: "Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Die Leute aus Deutschland haben so viel für uns getan, da will ich wenigstens ein klein wenig zurückgeben!"

Viele Erzieherinnen haben eine anderen Beruf gelernt

Wie  viele der Erzieherinnen im HPZ ist Ljuda völlig fachfremd. Obwohl sie gelernte Ingenieurin ist, arbeitet sie nun seit zwölf Jahren als Erzieherin mit "besonderen Kindern", wie sie hier in Russland oft genannt werden. Zum ersten Mal in Kontakt kam sie mit dem Zentrum, als sie Medikamente für ihren behinderten Sohn brauchte: "Damals, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, war noch nicht alles so wie heute. Medizin gab es nicht überall und nicht für alle." Sie hatte  gehört, dass es eine Förderschule mit Kontakt zu Deutschland gebe, und da half man ihr auch, die Arzneien zu organisieren.

Mehr wollte sie zunächst aber nicht mit dem Heilpädagogischen Zentrum zu tun haben. "Ich war in einer Protestphase, wollte nicht wahrhaben, dass mein Kind solch spezielle Förderung braucht." Die epileptischen Kinder, die sie im Schulhof des Zentrum gesehen hatte, schreckten sie zusätzlich ab. Inzwischen hat sich Ljudas Einstellung aber grundsätzlich geändert. Irgendwann ist ihr Sohn dann auch im HPZ zur Schule gegangen, und sie selbst ist als Mitarbeiterin eingestiegen.

"Die Kinder sind mein Ein und Alles"

Gleich an meinem ersten Arbeitstag hat sie mich unter ihre Fittiche genommen. Unter ihrer Anleitung ist die Arbeit mit den Kindern schnell zur Routine für mich geworden: beim An- und Ausziehen helfen, die nicht ganz so selbstständigen Kinder füttern, die Lehrerinnen während des Unterrichts so gut es geht unterstützen. Ljuda ist erst dann zufrieden, wenn sie sieht, dass ich mir wirklich Mühe gebe und nicht nur auf Anweisungen von anderen warte.

Was für die Kinder gilt, gilt auch für mich: größtmögliche Selbstständigkeit. Schließlich will sie, dass ich gut mitarbeite und eine wirkliche Hilfe in der Klasse bin; damit die Kolleginnen entlastet und die Kinder bestmöglich gefördert werden. Sie lebt regelrecht für das HPZ. "Du weißt doch, die Kinder sind mein Ein und Alles", erklärt sie mir. Oft ist sie nach der Arbeit noch lange da, engagiert sich im Elternkomitee oder bereitet Materialien für den Unterricht vor.

Russen sind Meister der Improvisationskunst

Und damit verbringt nicht nur sie viel Zeit: Da es in Russland kaum Materialien gibt, auf die Pädagogen zurückgreifen können, und die Programme aus Deutschland sich auch nicht immer eins zu eins umsetzen lassen, ist der Einsatz der Mitarbeiter des HPZ gefragt. Die Lehrerinnen haben keine Ausbildung in Sonderpädagogik, so etwas gibt es in Russland nicht. Meist sind es Grundschullehrerinnen oder Logopädinnen. "Learning by doing" ist das Motto. Ohne Kreativität und Improvisation läuft hier nichts. Aber da Russen von Natur aus Meister der Improvisationskunst sind, klappt es immer irgendwie.

Und so kann auch ich als deutsche FSJlerin inzwischen russische Gedichte über einen Hahn, den Frühling und zum Muttertag aufsagen, weiß, wie Zimmerpflanzen richtig gepflegt werden und kenne das Rezept für den besten Salzteig der Welt. Der steht nämlich in diesem Jahr für die Schüler aus meiner Klasse auf dem Lehrplan: Teig anrühren, kneten, Figuren ausstechen und formen. Das Highlight der Woche ist aber die Kochstunde freitags. Wenn Sonja, Andrej, Mischa, Kirill & Co. selbst Gemüse für ihren Salat schnibbeln oder sich belegte Brote schmieren, freuen sie sich riesig, weil sie das selbst Zubereitete beim anschließenden Frühstück auch gleich aufessen dürfen.

Behinderte Menschen kommen im Alltag nicht vor

Pskow ist im größten Land der Erde eine Art Mekka für alle, die in der Behindertenarbeit tätig sind. Fast wöchentlich reisen Praktikanten aus ganz Russland in die Stadt im äußersten Westen an der Grenze zu Estland, um zu sehen, wie in hier gearbeitet wird. Wieso es denn trotz dieser häufigen Besuche keine weiteren ähnlichen Zentren in Russland gibt? "Weil es keiner finanziert", so die einfache, traurige Antwort.

Die Idee der Integration und Inklusion ist hier noch nicht in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Frauen, die ein nicht den gängigen Normen entsprechendes Kind gebären, wird gleich angeboten, das Neugeborene abzugeben; das Sorgerecht an den Staat zu übertragen. Solche Kinder landen dann im Internat, abgeschieden von der Gesellschaft.

Geld oder lieber Süßigkeiten?

Selbst in Pskow, welches aufgrund seiner Einrichtungen für behinderte Menschen zur sozialsten Stadt Russlands gekürt wurde, sind Menschen mit Behinderungen ein seltenes Bild in der Öffentlichkeit. Zum Beispiel: Eine wöchentliche Unterrichtseinheit der Schüler des HPZ ist das Einkaufen. Mit Einkaufszettel, Einkaufstäschchen, und echtem Geld. Mit dem schuleigenen Bus geht es zum größten Supermarkt der Stadt, und dort kaufen die Schüler ein, was vorher gemeinsam ausgemacht wurde.

Leonid ist immer mit von der Partie, in seinem Rollstuhl. Als er gerade Tee in seinen Einkaufskorb legte, kam eine Frau auf ihn und eine Erzieherin zu: "Wie kann ich euch denn helfen? Soll ich euch lieber Geld geben oder etwas Süßes kaufen? Hier nehmt die hundert Rubel!" Sie drückte der Erzieherin einen Schein in die Hand, und noch bevor sich irgendjemand bedanken konnte, war sie wieder verschwunden. Sowas kann in Russland schon passieren, wenn "normale" Bürger Menschen mit Behinderungen in der Öffentlichkeit sehen. Es gibt keinen normalen Umgang, weil behinderte Menschen im russischen Alltag schlicht nicht vorkommen; auch nicht in der sozialsten Stadt der Föderation.

Last-Minute Angebote

Schweiz
Details
Schweiz
Stelle verfügbar ab
voraussichtlich August/September und Januar/Februar bzw. wie angegeben
Länge der Dienstzeit
12 Monate
Mindestalter
18
Führerschein erwünscht
Nein
Unterkunft vorhanden
Nein
Teilzeit möglich
Nein
Italien
Details
Italien
Name
Opera Diaconale Metodista
Stelle verfügbar ab
Ausreise jedes Jahr im September/Oktober
Länge der Dienstzeit
11 - 12 Monate
Mindestalter
18
Führerschein erwünscht
Nein
Unterkunft vorhanden
Ja
Teilzeit möglich
Nein